Da das im achten Kapitel beschriebene Kooperationsprojekt im Rahmen meines Studiums in der Jahrgangsstufe sieben der Albrecht-Berblinger-Gemeinschaftsschule Ulm (ABG) umgesetzt wird, liegt es Nahe, ihren Kontrast zur Gesamtschule-Bremen-Ost (GSO: s. Beitrag) zu beschreiben. In der Vorbereitung zu diesem Projekt bin ich seit Anfang 2023 mit der Schulleitung der ABG, einigen Lehrkräften und Schülerinnen im Austausch, so dass meine Eindrücke zu der Schule hier als Ausgangslage dienen. Alleine der Vergleich der Größen der Gebäude verweist auf durch die Architektur unterschiedlich bedingte Strukturen, wie diese beiden Kartenausschnitte von OpenStreetMap im gleichen Maßstab offenbaren:
Die Größendarstellung beider Kartenausschnitte sind gleich. Interessant neben der rein optischen Größe ist, für wie viele Schülerinnen die Gebäude zu welcher Zeit ausgelegt wurden. Das der GSO wurde 1972 fertig gestellt und wurde zu diesem Zeitpunkt für bis zu 2.400 Schülerinnen ausgelegt, das der ABG 1951 und war für 640 Schülerinnen gedacht. Aktuell besuchen 1360 die GSO und 480 das Schulgebäude der ABG (davon besuchen 280 die Grundschule im gleichen Gebäude). Die ABG lastet damit zwei Drittel der ursprünglichen Kapazität aus (diese entsprach 40 Schülerinnen für unter 60 qm Raumgröße). Die GSO lastet ihre ursprünglichen Kapazitäten etwas über der Hälfte aus, teilt sich aber die Räume mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Doch auch wenn die ABG ihre Schülerinnenzahl genauso senken könnte, würde nicht der Raum entstehen, um ein Orchester mit Weltklasse auch nur annähernd akzeptable Räume für seine Arbeit anbieten zu können. Das hängt damit zusammen, dass in Ulm in der unmittelbaren Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, wahrscheinlich wie in weiten Teilen der Republik, die Idee von guten, altersgerechten Raumbedürfnissen für Kinder und Jugendliche sich genau in dieser Architektur ausdrückte, die heute großzügiger und flexibler ausfällt. Die Architektur der GSO würde aus heutiger Sicht so sicherlich auch nicht mehr umgesetzt werden, doch hat sich hier zur Bauzeit die Idee eines Schulgebäudes schon vielmehr an die aktuellen Erkenntnisse zu Lernbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen angepasst.
Die Hintergründe der Kinder und Jugendlichen beider Schulen sind ähnlich divers und von Ressourcen verschiedener Kulturen sowie durch soziale Netzwerke geprägt, in denen kontinuierliche und verlässliche Strukturen weniger ausgeprägt sind. Die Aussicht auf einen höheren Bildungsabschluss sind allerdings für GSO-Schülerinnen besser, als für einen Großteil von Personen mit ähnlichen Hintergründen. Das liegt unter anderem an der vorhandenen gymnasialen Oberstufe, aber auch an den positiven Selbstwirksamkeitserfahrungen durch die umfassende Kooperationen mit externen Expertinnen aus u.a. den Künsten, Sport, Wirtschaft (Berufsorientierung), Sozialarbeit und Umweltbildung. Auch die ABG kooperiert in diesen Bereichen, doch sind die Kooperationen bis auf die Berufsorientierung selten Teil des Unterrichts und auch nicht so stark ausgeprägt. Abgesehen von den nicht vorhandenen Räumen für kooperierende Orchester wird dieses auch am Konzept der Schulsozialarbeit deutlich, wofür die GSO einen eigenen Fachbereich für Sozialpädagogik mit 11 Mitarbeiterinnen einrichten konnte. Die ABG verfügt über einen Sozialarbeiter. Es ist schwer zu übersehen, dass für die Aufmerksamkeit der Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen mit sehr ähnlichen Lebensherausforderungen in Bremen mehr Ressourcen zu Verfügung stehen, wovon die lokale Bildungsgerechtigkeit profitiert. Die Rahmenbedingungen der ABG sorgen nicht nur für Frustrationen auf Seiten der Schülerinnen, deren Bedürfnisse, um erfolgreich Bildungsplänen zu folgen, weniger im Schulalltag berücksichtigt werden können. Diese Rahmenbedingungen bekommen auch die Lehrkräfte zu spüren, die ihrem Lehrauftrag so wenig gerecht werden können. Die klassische Rollenverteilung in Schulen, dass Lehrkräfte und die Schulleitung die Verantwortung für den Bildungserfolg der Schülerinnen tragen, führt so zu Regeln, die das Verhalten der Schülerinnen reglementiert. Dazu zählen Kleidervorschriften wie auch kurzfristige Ausschlüsse vom Unterrichtsgeschehen. Das führt vielleicht etwas zu einem konformeren Verhalten der Schülerinnen in der Schule, aber weniger zu einer Steigerung höherer Bildungsabschlüsse. Wo die GSO auch bereits vor dem Einzug des Orchesters 2007 beginnen konnte, bedürfnisgerechte Schulstrukturen zu entwickeln, die über die Jahre stetig angepasst werden können, kann die ABG entsprechende Ziele erst seit 2019 mit einem Schulleiterwechsel verfolgen. Die Voraussetzungen für diesen Start weisen auch einen großen Kontrast im Vergleich mit dem Start der GSO auf: Das GSO-Schulgebäude wurde von 2002 an umfassend saniert und wurde mit dem Einzug des Orchesters gekrönt. Erfreut sich die GSO schon lange über ausreichende Bewerbungen, um das stabile Kollegium in der Lernfreudigen Umgebung zu ergänzen, bitten Lehrkräfte an der ABG um Versetzung. Dieser kann aber nur bedingt nachgekommen werden, da die Motivation für neue Lehrkräfte, um an zukünftigen stabilen Schulstrukturen mitzuwirken, verhalten bleibt. Damit hat die ausreichend Anzahl an Lehrkräften für den Unterricht Vorrang vor deren Versetzungswünschen. Die aktuelle Lage der fehlenden Bewerbungen wird durch den bundesweiten Mangel an benötigten Lehrkräften noch verstärkt. Leidtragende sind hier letztendlich vor allem die Kinder und Jugendliche. Verantwortung trägt hier auch stark die Bildungspolitik der Länder. Hier muss jedoch angemerkt werden, dass nach dem aktuellen Ländervergleich der Schulbildung das Land Bremen das Schlusslicht bildet und Baden-Württemberg aktuell Platz 5 belegt (Anger, Betz, Plünnecke 2023, S.149). Die hier beschriebenen Kontraste beider Schule erscheinen vor diesem Hintergrund also als Ausreißer aus der Statistik und verweisen auf die lokalen Begebenheiten und der teilweise personell bedingten Schulentwicklung. Dazu zählt die Einführung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg als neue Schulformen 2011, die für alle Kinder und Jugendliche unabhängig von der Grundschulempfehlung für weiterführende Schule offen ist. In Bremen gibt es bereits seit 1970 Erfahrungen mit der ähnlichen Schulform Gesamtschule. Die ABG war bis 2013 eine Werkrealschule mit einem anders orientierten Schulkonzept, das auf die verbindliche notenbasierte Empfehlung der Grundschulen aufbaute. Der Wandel im Schulalltag, mit dem das Kollegium in der Folge konfrontiert war, erfuhr durch einen erneuten Wechsel der Schulpolitik nach der Landeswahl 2015 relativ schnell eine erneute Ausrichtung. Diese Laune der Politik forderte viel von den Beamtinnen im Schuldienst, was nicht das nötige Verständnis für die anstehende Arbeit auf Seiten der betroffenen Menschen zur Folge hatte. Trotzdem den Anweisungen des obersten Vorgesetzten, dem zuständigen Ministerium, folgen zu müssen und darin einen Sinn zu erkennen, um die laufenden Schulentwicklungen weitsichtig zu gestalten, war an vielen Stellen eine Überforderung. Eine Frustrationskette kann als Folge beschrieben werden: Von ihrer Lebenswelt frustrierte Schülerinnen treffen auf frustrierte Lehrerinnen, die auf frustrierte Schüleinnen treffen. Der zu dem Zeitpunkt verantwortlichen Schulleitung der AGB ist es weniger gelungen, ihr Kollegium entsprechend zu motivieren. Der anstehende sichere Ruhestand ab 2018 spielte dabei vielleicht auch eine Rolle, da die Nachfolge im Amt zu einer großen Wahrscheinlichkeit, erneut Strukturen in andere Richtungen geändert hätte, als wie sie selber für richtig erachtet wurden. Warum also das Kollegium in eine Richtung führen, die in absehbarer Zeit wieder eine Änderung erfahren durfte? Vielleicht handelte es sich auch um eine bequeme Haltung. Neue Strukturen im Sinne der Bedürfnisse der Schülerinnen, die eine Weiterentwicklung von gewohnten Haltungen und über Jahre gewachsene Verständnisse der Rollenverteilung in der Schule bedeutet hätten, blieben aus.
Die Geschichten der GSO und der ABG sind fundamental unterschiedlich. Doch stellt die neue Schulleitung der ABG sich die Frage, wie eine zukünftige Schulentwicklung zur Öffnung der Schule ins Quartier erreicht werden kann. Sie geht davon aus, dass Partizipation der Schülerinnen eine Rolle zu spielen hat, was wiederum für die Entwicklung stabiler Kooperationsstrukturen spricht. Die Förderung von Selbstwirksamkeitserfahrungen der Schülerinnen, wie sie an der GSO strukturell ermöglicht werden, wären dann auch an der ABG ein zentrales Thema.